Zu unsern Zeiten: EINsichten + Aussichten: Väter

Sat, 21 Nov 2020 12:40:22 +0000 von Wiebke Köhler

Väter
„Jiskor“ heißt ein Gebet, das jede Jüdin und jeder Jude für seine Eltern beten soll, wenn sie verstorben sind. In dem Wort steckt das Verb „gedenken“, eine Form der persönlichen Erinnerung, die besonders eindrücklich ist. Nicht nur zurückdenken, sondern verinnerlichen, sichten und auch werten, was gewesen ist. Gerade in diesem Jahr habe ich diese starke Form des Erinnerns und Gedenkens mit mir selbst erlebt. Ich dachte an den Moment, als mein Vater plötzlich sagte: „jetzt bin ich älter als mein Vater und mein Großvater.“ Und er erzählte von den beiden Männern, Vater und Sohn, die nicht älter als 37 Jahre werden konnten, der eine, weil er im 1. Weltkrieg fiel, der andere, weil er mitten im 2. Weltkrieg an einer Krankheit starb. Er war geschwächt und überarbeitet, und weil es keine Medikamente gegen Kinderlähmung gab, konnte er nicht gerettet werden. Dieser Großvater war ein Ingenieur, ein Flugzeugkonstrukteur und er leitete die Erprobung der von ihm mit-entwickelten Flugzeuge bei der Firma Focke-Wulf. Am Ende seines kurzen Lebens hat er Bomber konstruiert. Für ihn habe ich das getan, was die jüdische Frömmigkeit mit dem Jiskor-Gebet verbindet. Als ich vor vier Jahren in Coventry war, habe ich seiner gedacht, denn Coventry wurde als erste Stadt in Großbritannien am 14. November 1940 bombardiert und zerstört. 556 Menschen starben bei diesem Angriff. Auch die gotische Kathedrale wurde zerbomt. Nach dem Zweiten Weltkrieg ist ein beeindruckender Neubau als Gedenkort und Friedensort entstanden. Darin integriert ist der zerstörte Rest der alten Kathedrale. Noch 1940 hat man in die Wand des zerstörten Chorraums die Worte eingelassen: Father forgive – Vater vergib. Nur weil Gott darum gebeten werden kann, mit der Vergebung anzufangen, so habe ich damals gedacht, können wir selbst Vergebung finden und anderen vergeben. Vor 80 Jahren hat mein Großvater den Luftkrieg über England vorbereitet, wenig später wurden er, meine Großmutter und die damals drei Kinder zum ersten Mal ausgebomt. Es ist ihnen dann noch zwei Mal so ergangen, mein Vater hat unter diesen und anderen Erinnerungen aus seiner Kindheit besonders kurz vor seinem Tod sehr gelitten. Was mich immer erstaunt ist, dass er als junger Pastor auf dem Fliegerhorst in Wunstorf zunächst als Militärgeistlicher gewirkt hat. Damals war er Ende 20 und ich weiß, dass er später eindeutig Pazifist war, denn er hat in den 70er Jahre auch Wehrdienstverweigerer begleitet und beraten. 
Es ist am Ende des Kirchenjahres gut, zurückzuschauen. Wir denken an die, die nicht mehr da sind und trotzdem wichtig für uns bleiben. Und wir vertrauen sie, unsere Väter und Mütter, und alle, die wir kannten und uns in unserem Leben begleitet haben und es noch tun, dem einen Vater an, unserem Gott. „Vater, vergib“, das sind die Worte Jesu am Kreuz.  Und er ist unser Bruder. 

Ihre Pastorin Wiebke Köhler
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