"Menschenskinder!" - Erwachsenwerden mit dem Guten Hirten - Lesepredigt offene Münsterkirche

Wed, 21 Apr 2021 09:34:25 +0000 von Tanja Poppinga

Seltsamerweise war das erste Bild eines Hirten, an das ich mich erinnern kann, auf einer Dose mit Säuglingscreme. Ich mag etwa drei Jahre alt gewesen, als ich mir die Penaten-Creme der 60er Jahre immer wieder angeguckt habe. Sie hatte eine Zeichnung von einem stilisierten Hirten mit Hut und Hirtenstab und einem Hütehund auf blauem Grund. Später kannte ich auch einen lebendigen Hirten: auf der Wiese ganz in der Nähe standen Schafe in einem Pflog. Der Schäfer war ein alter Landwirt, der „Opa“ vom Hof unserer Nachbarn, der auf der Wiese sowohl Gänse als auch Schafe weiden ließ. Morgens kamen sie und abends wurden sie wieder zurück in den Stall getrieben. Aber ich hatte Angst vor den Gänsen. Und vor „Opa“ auch. Denn der war immer etwas grummelig und wenn wir Kinder aus der Straße dort in der Nähe herumtobten, schimpfte er laut und sagte: „Menschenskinder!“ Meine Mutter erklärte, dass Schafe sehr freundliche und nützliche Tiere seien und dass ihre Wolle gut für Pullover zu gebrauchen sei. Aber das fand ich auch nicht so gut. Denn meine Wollpullover kratzten meiner Meinung nach sehr. 
Unabhängig von diesem Themenkreis gab es aber auch noch den „Guten Hirten“ – Jesus. Er hatte gar nichts mit kratzigen Pullovern und schimpfenden Nachbarn oder gefährlichen Gänsen zu tun. Jesus war der Held schöner Geschichten aus der Kinderbibel und er war auch Hirte, in meiner Vorstellung sah er so aus, wie auf der Penatencreme-Dose: Mit Hut und Hirtenstab und einem ganz lieben Hund. Hinzu kam, dass meine Mutter manchmal vor dem Einschlafen das Lied „Weil ich Jesu Schäflein bin“ gesungen hat:

Weil ich Jesu Schäflein bin,
Freu' ich mich nur immerhin
Über meinen guten Hirten,
Der mich wohl weiß zu bewirten,
Der mich liebet, der mich kennt
Und bei meinem Namen nennt. 

2. Unter seinem sanften Stab
Geh' ich aus und ein und hab'
Unaussprechlich süße Weide,
Dass ich keinen Mangel leide;
Und sooft ich durstig bin,
Führt er mich zum Brunnquell 

3. Sollt' ich denn nicht fröhlich sein,
Ich beglücktes Schäfelein?
Denn nach diesen schönen Tagen
Werd' ich endlich hingetragen
In des Hirten Arm und Schoß:
Amen, ja mein Glück ist groß!
 
(Henriette Maria Luise von Hayn)

Meine Mutter hat immer erzählt, dass ich, nachdem sie das Lied gesungen hatte, ganz amüsiert gesagt haben soll: „Aber ich bin doch kein Schäflein!“ Daran kann ich mich nicht erinnern. Aber die Zeile „Amen, ja mein Glück ist groß!“ kommt mir heute noch spontan in den Sinn, meistens allerdings in unpassenden Situationen.

Für mich missverständlich war noch ein anderes Lied:

Wer hat die schönsten Schäfchen?
Die hat der gold'ne Mond,
der hinter unser'n Bäumen
am Himmel droben wohnt.
 
Er kommt am späten Abend,
wenn alles schlafen will,
hervor aus seinem Hause
zum Himmel leis' und still.

Dann weidet er die Schäfchen
auf seiner blauen Flur,
denn all die weißen Sterne
sind seine Schäfchen nur.
 
Sie tun sich nichts zuleide,
hat eins das and're gern,
und Schwestern sind und Brüder
da droben Stern an Stern.
 
Und soll ich dir eins bringen,
so darfst du niemals schrei'n,
musst freundlich wie die Schäfchen
und wie ihr Schäfer sein.
 
(Heinrich Hoffmann von Fallersleben)
 
Auch das wurde abends gesungen und ich war ratlos, warum der Schäfer, der Mond, in der dritten Strophe die Schäfchen auf seinem blauen Flur weidet, unser Flur war mit roten Kacheln bedeckt und ich wusste ja, dass Schafe Gras fressen. Außerdem hat das Lied bei mir fast bis ins Erwachsenenalter bewirkt, dass ich dachte, der Mond geht abends auf und morgens wieder unter, parallel zum Verhalten der Sonne am Tag. Das Lied war insgesamt textlich schwierig, denn bei mir und meinen Geschwistern gab es nicht selten mal Streit, etwas, das in diesem Lied offensichtlich missbilligt wurde. 
 
Als ich Konfirmandin wurde, lernte ich den 23. Psalm auswendig. Langsam wurde ich, gemeinsam mit dem Bild des Hirten, erwachsen. Im Studium erfuhr ich mehr darüber: Was mir vorher wie ein friedlich-idyllisches Gemälde erschien, veränderte sich. Im Hebräischen bezeichnen die Begriffe „Stecken und Stab“ auch die Verteidigungswaffen der Hirten, mit Eisen beschlagene Knüppel oder sogar die eisernen Zepter, die man in den Darstellungen vorderorientalischer Herrscher findet. Alle waren Hirten in den halbnomadischen Völkern Palästinas, denn Besitz bestand im Vieh, im Kleinvieh wie Schafe und Ziegen. Die Erzväter Abraham, Isaak und Jakob waren reiche und mächtige Oberhäupter von großen Familienverbänden. Und so war Gott selbst ein machtvoller Hirte für seine Menschen. Das Bild vom Hirten und seiner großen Herde wirkt auch später unmittelbar weiter, als die Menschen in Israel und Juda sich längst in Städten niedergelassen hatten. Hirte war ein Titel für Könige. Und Zepter und Krummstab waren Zeichen ihrer Würde. 
 
In den Worten des Propheten Jeremia wird das Bild vom Hirten ganz politisch ausgelegt. Im babylonischen Exil analysiert Jeremias Prophetie die Frage, wie es zur Zerstörung Jerusalems und Israels kommen konnte. Das verschwenderische Verhalten der Jerusalemer Oberschicht, ihre Missachtung von Kleinbauern und lohnabhängigen Arbeitern und ihre machtpolitischen Manöver sind Anlass zur prophetischen Kritik: unverantwortlich wie desinteressierte Hirten haben sich die Machthaber in Jerusalem in Krisenzeiten benommen. Und das Volk muss die Konsequenzen tragen. Jeremia macht deutlich, dass die Verantwortlichen nicht mehr als würdige Hirten gelten, sondern Gott selbst das Hirtenamt übernehmen wird: „Ich selbst will meine Schafe weiden, und ich will sie lagern lassen, spricht Gott der HERR. Ich will das Verlorene wieder suchen und das Verirrte zurückbringen und das Verwundete verbinden und das Schwache stärken und, was fett und stark ist, behüten; ich will sie weiden, wie es recht ist. Ja, ihr sollt meine Herde sein, die Herde meiner Weide, und ich will euer Gott sein, spricht Gott der HERR.“(Jeremia 34, 15)
Übrigens redet Gott seinen Propheten immer mit „Du Menschenkind“ an: „Und des HERRN Wort geschah zu mir: Du Menschenkind, weissage gegen die Hirten Israels, weissage und sprich zu ihnen: So spricht Gott der HERR: Wehe den Hirten Israels, die sich selbst weiden! Sollen die Hirten nicht die Herde weiden?“ (Jeremia 34,1f)
Auch heute können diese prophetischen Bilder eine politische Situation ganz gut beschreiben. Einer Runde von Ministerpräsident*innen, in der trotz Pandemie keine Einheitlichkeit, Übereinkunft und strategische Stärke zustande kommt, kann man mit den Worten Jeremias vorwerfen: Menschenskinder!  „Das Schwache stärkt ihr nicht, und das Kranke heilt ihr nicht, das Verwundete verbindet ihr nicht, das Verirrte holt ihr nicht zurück, und das Verlorene sucht ihr nicht; das Starke aber tretet ihr nieder mit Gewalt.“(Jeremia 34,4)
 
Gebet:
 
Herr Jesus Christus,
du kennst dich aus mit dem Bild des Hirten und den Ängsten der Herde.
An deiner Krippe haben Hirtinnen gestanden und sie waren die ersten,
die dir nahegekommen sind.
Auch ich will dir begegnen und aus deiner wahren Stärke Kraft schöpfen.
Nicht Macht und Ansehen will ich gewinnen,
sondern Verantwortung und Hingabe musst du mir immer wieder zeigen.
Nimm mich auf bei denen, die dir folgen wollen.
Lass mich nicht allein in den Zeiten von Angst,
nimm mich an der Hand, wenn es dunkel wird
und führe mich in das Licht deiner Liebe.
 
Amen
 
Ach, dazu müsse deine Lieb uns dringen!
Du wollest, Herr, dies große Werk vollbringen,
dass unter einem Hirten eine Herde aus allen werden.
(EG 221,3)
Quelle: Foto KG Einbeck
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