
Sonntag „Kantate – Singet!“, 10. Mai 2020
Vier Musik-Wort-Impulse von Kantorin Ulrike Hastedt, Vikarin Steffi Deichmann und Pastor Daniel Konnerth
1. Warum ich singe
Was brauchen Sie, um in eine gute Stimmung zu kommen?
Sängerinnen und Sänger brauchen dieses hier, eine Stimmgabel.
Vom Ton der Stimmgabel geht alles aus. Sie wird kurz angetippt, ans Ohr gehalten, die Töne werden gesucht, an den Chor weitergegeben, die Töne werden vom Chor angenommen, angesummt. Und schon sind alle Mitsängerinnen und Mitsänger in bester Stimmung.
Für mich ist die Stimmgabel mit ihrem Ton, der sich immer weiter ausbreitet über das Ohr des Chorleiters, über die Chorsänger bis hin in die Seele der Zuhörer ein wunderbares Bild für dieses „In gute Stimmung kommen“. Oder um es theologisch auszudrücken: Wie ein Sänger sich stimmen lässt von einer Stimmgabel, so sollten wir Christen uns stimmen lassen – von Gott.
Psalm 146 ist so etwas wie ein Stimmgabelton Gottes, da heißt es: „Ich will den HERRN loben, solange ich lebe, und meinem Gott lobsingen, solange ich bin.“ Paul Gerhardt hat daraus eins der schönsten Gesangbuchlieder nachgedichtet: „Du meine Seele, singe“.
Manchmal möchte eine Chorleiterin den Ton von der Stimmgabel abnehmen, aber es ist unmöglich, denn alle Sängerinnen und Sänger quatschen dazwischen. „Seid doch mal leise“, sagt sie dann, „ich kann die Stimmgabel nicht hören.“
Das ist dann ein Bild dafür, dass wir uns oft nicht mehr stimmen lassen vom Stimmgabelton Gottes, dass wir seinen Ton überhören.
Sängerinnen und Sänger sind da im Vorteil, sie spüren, wie das ist, sich von Gott stimmen zu lassen:
- Wer schon mal die Johannes-Passion mitgesungen hat,
- Wer erlebt hat, wie eine einzige Choralstrophe zu Tränen rühren kann,
- Wer spürt, wie der eigene Gesang etwas in mir selbst und vielleicht auch bei den Mitsängern und den Zuhörern anstößt,
… der geht fortan gestimmt durchs Leben.
Bei mir war es meine Mutter, die mich gestimmt hat. Meine Mutter war Kantorin – und wir Kinder waren zu diversen Chören dienstverpflichtet. Als Jugendlicher habe ich manches Mal mit der Musik Bachs gekämpft. Das war für mich oft schwer, kompliziert, altmodisch. Meine Schwester, inzwischen Kantorin in Freiburg, die hat dann immer ganz ruhig gesagt: „Wart’s ab, du kommst da auch noch hin.“
Sie hatte Recht. Einen Bach-Choral zu hören, noch besser: zu singen, ist für mich eine tiefgehende religiöse Erfahrung.
Meine Mutter hat jeden Abend mit uns gesungen: „Der Mond ist aufgegangen“, „Nun ruhen alle Wälder“, „Befiehl du deine Wege“, „Du meine Seele, singe“. Uns so hat sie mich gestimmt – für’s Leben.
Lied: „Du meine Seele, singe“ (Evangelisches Gesangbuch 302)
2. Psalmcollage zu Psalm 98 „Singet dem Herrn ein neues Lied“
Wenn der Berliner Sänger, Schauspieler und Schriftsteller Klaus Hoffmann auftritt, dann hat er seit über 40 Jahren ein Lied im Programm: „Wenn ich sing“.
Auch als er vor ein paar Jahren in Einbeck aufgetreten ist, gehörte dieses Lied dazu. Heute Morgen trifft Klaus Hoffmanns Lied auf Psalm 98, den Psalm der Woche:
Und du hast Pferde gekauft, oben im Norden Bamians,
Hast die Mädchen aus Frankfurt gesehen,
Die ihre Wünsche in die staubige Straße spuckten. Die wollten weiter zu den Gurus nach Goa,
Und du warst viele Joints unterwegs von Pancho nach Tschakcheran
Und bist dir kein Stück näher gekommen.
Und du hast in dir gesessen, viele Nächte im klaren Frost,
Den Ochsen in dir gesucht, bis er oft greifbar nah war,
Warst auf den Märkten von Stambul und in den Kneipen von Ivalo,
Mal vegetarisch, mal steakversessen – und bist dir kein Stück näher gekommen.
Singet dem Herrn ein neues Lied, denn er tut Wunder.
Er schafft Heil mit seiner Rechten und mit seinem heiligen Arm.
Der Herr lässt sein Heil kundwerden;
vor den Völkern macht er seine Gerechtigkeit offenbar.
Er gedenkt an seine Gnade und Treue für das Haus Israel,
aller Welt Enden sehen das Heil unsres Gottes.
Und standest so oft an der Wand, mit dem hochmütigen Blick des Richters,
Du wärest zu gern beteiligt gewesen an der Spontaneität der anderen,
Hattest immer ein Aber' bereit,
Sprangst dann doch mitten hinein ohne zu denken,
Erlebtest ein paar Momente des Glücks
Und warst minutenlang du.
Jauchzet dem Herrn, alle Welt, singet, rühmet und lobet!
Lobet den Herrn mit Harfen, mit Harfen und mit Saitenspiel!
Wenn ich sing', ist ein Mantra in mir, wenn ich sing', dann sing' ich mit dir,
Wenn ich sing', wenn ich sing', wenn ich sing', dann bin ich mir nah.
Mit Trompeten und Posaunen jauchzet vor dem Herrn, dem König!
Das Meer brause und was darinnen ist, der Erdkreis und die darauf wohnen.
Die Ströme sollen frohlocken, und alle Berge seien fröhlich vor dem Herrn;
denn er kommt, das Erdreich zu richten.
Er wird den Erdkreis richten mit Gerechtigkeit und die Völker, wie es recht ist.
Wenn ich sing', ist die Angst nicht mehr da, wenn ich sing', wird ein Augenblick wahr,
Wenn ich sing', wenn ich sing', wenn ich sing', dann bin ich dir nah.
Wenn ich sing', singt alles heraus, was kaputt, verboten, zerschlagen, im Aus,
Wenn ich sing', wenn ich sing', wenn ich sing', dann bin ich dir nah.
Singet dem Herrn ein neues Lied, denn er tut Wunder.
Lied: „Singet dem Herrn ein neues Lied“ (Evangelisches Gesangbuch 287)
3. Und wenn man nicht singen kann…
Ja, was macht man eigentlich, wenn man nicht singen kann?
Ich denke an Deutschlands bekanntesten Rocksänger Udo Lindenberg, der am kommenden Sonntag 74 Jahre alt wird.
Ich bin bekennender Udo-Lindenberg-Fan, auch wenn meine Familie mich dann immer mitleidig anschaut und sagt: „Udo, der kann doch gar nicht singen?“
Der Meinung sind auch andere. Der taz-Autor Thomas Winkler schreibt: „Er grummelt. Er nuschelt. Er murmelt, meckert und mosert. Manchmal grunzt er auch. Nur singen, nein, singen tut er nicht. Udo Lindenberg ist der erfolgreichste nicht singende Sänger der deutschen Popgeschichte.“
Udo sieht das übrigens auch so, dass er auf keinen Fall der klassische Sänger ist. Und doch nennt er sich selber liebevoll „Die Nachtigall“. Und die gesammelten Platten seiner Zeit bei der Hamburger Plattenfirma Polydor, die im letzten Jahr als Neuauflage herausgekommen sind, tragen den Titel „Das Vermächtnis der Nachtigall“.
Vielleicht ist es nicht nur die Stimme, der „Gesang“ von Udo, der mich seit fast 40 Jahren fasziniert. Lindenberg hat nie nur Musik gemacht. Immer auch hat er sich eingesetzt für die Schwachen, hat Missstände angeprangert und sich kräftig in die aktuelle Politik eingemischt. Und dabei hat er nie etwas nachgemacht, immer machte er seins. „Ich mach mein Ding“ heißt eins seiner bekanntesten Lieder. Und darin beschreibt er wunderschön, wie er seinen eigenen Weg gefunden hat.
Ich denke an Petrus, den besten Freund Jesu, wie er nach Ostern seinen eigenen Weg finden muss. Und wie er dann nach Pfingsten endlich „sein Ding“ macht.
Ganz am Anfang holt Jesus ihn zu sich. „Kommt, folgt mir nach“, spricht Jesus zu Petrus und seinem Bruder Andreas, „ich mache euch zu Menschenfischern.“ Doch Menschenfischer zu sein, ist nicht leicht. Als Jesus stirbt, verlässt Petrus diesen Weg. Er hat Angst, er verleugnet seinen Freund sogar. Und erst zu Pfingsten, als der Heilige Geist über Petrus kommt, findet er zurück zu seiner Aufgabe, die Jesus für ihn vorgesehen hat. Nun wird er wirklich Menschenfischer: Er traut sich was und predigt. Jetzt endlich macht er sein Ding.
Oft ist es ein ganz schön langer Weg, bis man „sein Ding“ machen kann, das gilt für Rockmusiker genauso wie für Menschen, denen der Glaube an Gott wichtig ist.
Ich darf mich von Gott rufen lassen. Und wenn ich gut zuhöre, dann finde ich in dieser Welt meinen Ort. Und Gott sagt: „Genau da brauche ich dich! Das ist genau dein Ding!“
Und das muss nicht unbedingt Singen sein…
Was ist eigentlich Ihr Ding?
4. Zum Film „Das Lied in mir“
Vor zehn Jahren kam ein Film in die Kinos, der mich wirklich beeindruckt hat. Der junge Regisseur Florian Cossen dreht 2010 den Film „Das Lied in mir“. Maria Falkenmayer, eine Schwimmerin, gespielt von der wunderbaren Jessica Schwarz, fliegt von Deutschland nach Argentinien. Sie landet in Buenos Aires, eigentlich nur ein Zwischenstopp. Im Warteraum des Flughafens hört sie, wie eine Mutter ihrem kleinen Kind ein Lied vorsingt, natürlich auf Spanisch: „Arrorro mi niño.“
Maria spricht nicht die spanische Sprache, aber die Sprache der Musik, die versteht sie sofort. Sie hört das Lied, sie erkennt das Lied – und sie bricht in Tränen aus. Maria ist verstört, sie verpasst ihren Weiterflug und bleibt in der Stadt. Sie erzählt ihrem Vater am Telefon von diesem Ereignis. Und nun ist auch er verstört – und er reist ihr sofort hinterher.
Die Vergangenheit holt die beiden ein. Als sie sich begegnen, beichtet er Maria, dass er nicht ihr leiblicher Vater ist. Ihre Eltern wurden während der Militärdiktatur gefangen genommen und ermordet. Und ein deutsches Ehepaar hat Maria illegal nach Europa mitgenommen. Maria Falkenmayer kämpft um die Wahrheit ihrer Herkunft, ihr Vater, Anton Falkenmayer, kämpft um die Liebe seiner Tochter.
Und ein Lied, das tief in Maria steckt, hat diese Frage überhaupt erst angestoßen: Wer bin ich?
Als Christen würden wir vielleicht nicht nur fragen: Wer bin ich? Wir würden fragen: Wer bin ich vor dir, Gott?
Und vielleicht würden wir antworten, wie Fritz Baltruweit es getan hat:
Mein Lied in mir, das hast du, Gott, mir gegeben. Du hast es mir eingepflanzt. Es begleitet mich jeden Tag. Und manchmal muss es einfach raus, dir zum Lob.
Ich sing dir mein Lied, in ihm klingt mein Leben.
Die Töne, den Klang hast du mir gegeben
von Wachsen und Werden, von Himmel und Erde,
du Quelle des Lebens, dir sing ich mein Lied.
Amen.
Lied: „Ich sing dir mein Lied“