
© Jens Schulze
Landesbischof Ralf Meister schreibt aus Anlass
des 80. Jahrestages des Dekrets zur Deportation
der Wolgadeutschen:
„Der Geist Gottes des Herrn ist auf mir, weil der Herr mich
gesalbt hat. Er hat mich gesandt, den Elenden gute Botschaft
zu bringen, die zerbrochenen Herzen zu verbinden,
zu verkündigen den Gefangenen die Freiheit, den Gebundenen,
dass sie frei und ledig sein sollen; zu verkündigen
ein gnädiges Jahr des Herrn.“ (Jesaja 61, 1-2)
Am 28. August 2021 jährt sich der Erlass des Präsidiums
des Obersten Sowjets der UdSSR „Über die Umsiedlung
der im Wolgagebiet ansässigen Deutschen“ zum 80. Mal.
67 Tage nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 markiert dieses Datum einen gravierenden Einschnitt im Leben der Wolgadeutschen, die als Nachkommen deutscher Einwanderer in das Russische Reich vorwiegend am Unter- und Mittellauf der Wolga siedelten.
Kollektiv wurden die Wolgadeutschen der Kollaboration mit dem faschistischen Regime bezichtigt und nach Sibirien und Zentralasien deportiert. Familien wurden gewaltsam getrennt, tausende Menschen kamen ums Leben, die überlebenden Deportierten mussten in der Arbeitsarmee, der sog. Trudarmee, Zwangsarbeit leisten.
Aber nicht nur die Wolgadeutschen waren betroffen – insgesamt wurden mehr als 1,2 Million Russlanddeutsche deportiert. Hundertausende – die genauen Zahlen sind nicht ermittelt – starben an Erschöpfung, Krankheiten und Hunger. Die lebend Entlassenen sowie die Alten, Kinder und die, die nicht abkommandiert waren, wurden „Sondersiedlungen“ zugewiesen, die sie nicht unerlaubt verlassen durften. Deutsche Sprache und Kultur waren ihnen verboten. Die Mehrheit dieser Wolgadeutschen waren evangelische Christen. Ihre Kirche wurde schon 1937 von den Sowjets zerschlagen. Ihr Glaube lebte aber im Verborgenen in zahlreichen Hauskreisen und „Brüderstunden“ weiter und trug sie auch durch die schwere Zeit der Deportation. Die Luther-Bibel, das wolgadeutsche Gesangbuch, Gebetbücher und
Lesepredigten waren kostbare Schätze, die sorgsam verwahrt und unter großer Gefahr benutzt wurden.
Viele dieser bibeltreuen Menschen verstanden Leid und Verfolgung als eine Prüfung auf dem Weg in das Reich Gottes. Die Erwartung einer heilvollen und herrlichen Zukunft, wie sie im Jesajabuch für die Zeit nach dem babylonischen Exil prophezeit wird, war für die deportierten Russlanddeutschen eine lebenswichtige Hoffnung, die ihnen Kraft und Orientierung gab.
Ihr Vertrauen auf Gott, dass sie die Freiheit wiedergewinnen, dass die zerbrochenen Herzen verbunden werden und die Zukunft hell vor ihnen liegt, markiert auch die Stationen ihres weiteren Weges.
1956 wurden die „Sondersiedlungen“ aufgelöst. 1964 wurde der Vorwurf der Kollaboration zurückgenommen, allerdings ohne dass es zu einer grundlegenden Veränderung der sowjetischen Politik gegenüber den Russlanddeutschen kam. Erst im Rahmen der Ostpolitik – insbesondere ab 1987 – bot sich ein rechtlicher Rahmen zur Emigration, den viele nutzten. Bis heute sind etwa 2,5 Millionen Russlanddeutsche als Aussiedler in die Bundesrepublik gekommen. Von den Kirchenmitgliedern in den EKDGliedkirchen
sind etwa 10 % zugewanderte Russlanddeutsche und deren hier geborene
Nachkommen. Viele von ihnen sind in unseren Kirchengemeinden beheimatet und aktiv.
Auch deshalb ist es mir ein Anliegen, an diesem 80. Jahrestag der Deportation der Wolgadeutschen innezuhalten. Wir gedenken der Opfer der Deportation.
Zur Erinnerung und zum Gedenken gehört auch die Erkenntnis, was wir aus der Geschichte lernen können. Der Umgang mit Geflüchteten und Vertriebenen ist tief verwurzelt in unserer Geschichte. Wenn wir erinnern an das Leid der damals vertriebenen und geflüchteten Menschen, führt es uns in die Verantwortung für die Menschen, die heute bei uns eine neue Heimat suchen.
Ralf Meister
Landesbischof der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers
Weitere Informationen: https://80-jahre-deportation.de
Ralf Meister
Landesbischof der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers
Weitere Informationen: https://80-jahre-deportation.de